Interview mit Mikroplastikforscherin Dr. Korinna Altmann
Zum Hintergrund
Im Rahmen des europäischen Green Deals und des Aktionsplans für die Kreislaufwirtschaft hat die Europäische Union Maßnahmen ergriffen, um die Verschmutzung durch Mikroplastik in die Umwelt bis 2030 um 30 Prozent zu verringern. Bislang fehlen jedoch belastbare Daten für eine umfassende Risikobewertung. Denn die Identifizierung und Quantifizierung von Mikroplastik in der Umwelt ist nach wie vor eine Herausforderung: Neben validierten Analysemethoden, Standardarbeitsanweisungen und Harmonisierung, mit denen zuverlässige, aussagekräftige und mit anderen Studienergebnissen vergleichbare Daten erhoben werden können, sind sogenannte Referenzmaterialien von zentraler Bedeutung (s. auch Bericht „Aus Wissenschaft und Forschung: Entwicklung neuer Referenzpartikel an der Uni Bayreuth“). Eine Expertin auf diesem Gebiet an der Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung (BAM) ist Dr. Korinna Altmann. Wir haben sie zum Stand der Forschung und Entwicklung von Referenzmaterialien für die Mikroplastikforschung befragt.
Dr. Korinna Altmann
Dr. Korinna Altmann studierte Chemie an der Freien Universität Berlin und promovierte an der Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung (BAM) im Bereich Polymeroberflächen. Seit 2015 forscht Dr. Altmann an der BAM zu Mikroplastik und arbeitet an der Etablierung und Weiterentwicklung von Methoden für die Analyse von Mikroplastikproben in Umweltmedien sowie an der Entwicklung von realitätsnahem Referenzmaterial für die Mikroplastikanalyse. An der BAM leitet Dr. Altmann die Arbeiten zur Analytik und Meßmethodik von Mikro- und Nanoplastik im Rahmen der EU-Projekte „POLYRISK“ und „PlasticsFatE“ sowie des Projekts „PlasticTrace“, das die Entwicklung und Harmonisierung von Methoden zur chemischen Identifizierung, physikalischen Charakterisierung und Quantifizierung von freigesetztem Mikro- und Nanoplastik in Trinkwasser-, Lebensmittel- und Umweltmatrizes zum Ziel hat. Dr. Altmann leitete im europäisch geförderten CUSP-Cluster die Arbeitsgruppe zu internationalen Ringversuchen mit Ziel der Harmonisierung und übernimmt darüber hinaus die Projektleitung für die Entwicklung eines Standards in einem internationalen Normungsgremien zum Thema Referenzmaterial von Mikroplastik mit dem Ziel, so die Regulierungsbemühungen der EU-Kommission zu unterstützen.
Unsere Fragen
Frau Dr. Altmann, im Projekt „PlasticTrace“ leiten Sie die Forschungsaktivitäten zur Herstellung von Referenzmaterialien für die Mikro- und Nanoplastikanalytik. Warum sind Referenzmaterialien so wichtig und was sind allgemein die Herausforderungen bei der Entwicklung solcher Referenzmaterialien? Inwiefern sind Referenzmaterialien Voraussetzung, um die Messmethoden validieren und Messungen in wissenschaftlichen Studien zum Vorkommen und Gehalt von Mikro- und Nanoplastik in der Umwelt etwa in Lebensmitteln, Böden, der Luft oder Gewässern realistisch interpretieren zu können?
Grundsätzlich handelt es sich bei Referenzmaterialien um Materialien, bei denen mindestens eine spezifische Eigenschaft besonders gut charakterisiert und für alle Teilproben identisch ist, also homogen. Ist das Material nicht nur homogen, sondern auch noch über einen definierten Anwendungszeitraum hinaus stabil, dann darf es sich Referenzmaterial nennen. Zusätzlich gibt es noch zertifizierte Referenzmaterialien, bei denen die Messergebnisse der spezifischen Eigenschaft zusätzlich durch Messungen in anderen Laboren, also mit Hilfe eines Ringversuches bzw. Vergleichsversuches, untermauert werden. Das Messergebnis wird metrologisch rückführbar.
Solche (zertifizierten) Referenzmaterialien sind unerlässlich, wenn die Richtigkeit und Zuverlässigkeit von Methoden sichergestellt werden soll. Die Anwendung eines Referenzmaterials bei der Validierung der entwickelten Methode gibt die Möglichkeit zur Bestimmung der Wiederfindungsrate. Geht diese in Richtung 100% Wiederfindung, so ist die Eignung der Methode für die jeweilige Anwendung bestätigt. Mit Hilfe des Referenzmaterials kann jeder einzelne Schritt bei der Mikroplastikanalytik z.B. die Probennahme, die Probenvorbereitung und auch die Detektion individuell bewertet werden. So kann für das Messergebnis eine Unsicherheit (also Abweichung) vom Referenzwert bestimmt werden oder die Methode selbst optimiert hin zu einer höheren Wiederfindung. Zusätzlich können aber auch mögliche Kontaminationsquellen identifiziert und abgestellt werden.
Im Rahmen der Mikroplastikforschung gibt es nun drei große Herausforderungen: das Material, die Konzentrationen in realen Kompartimenten und die Analysemethoden selbst.
Referenzmaterialien werden immer für einen bestimmten Anwendungszweck hergestellt. So stellt sich die Frage, welches Referenzmaterial entwickelt werden soll, wenn für die Herstellung erhebliche Kosten verursacht und viel Zeit benötigt werden. Ich arbeite an der BAM seit 2018 auf dem Gebiet der Referenzmaterialien. Wir haben die Entscheidung getroffen, dass wir uns mit den vier am häufigsten in der Umwelt detektierten und auch von der Industrie meist hergestellten Polymerarten beschäftigen: Polyethylen (PE), Polypropylen (PP), Polystyrol (PS) und Polyethylenterephthalat (PET). Diese werden häufig in der Verpackungsindustrie eingesetzt, so dass wir Menschen in ständigem Kontakt damit stehen. Weiterhin wichtig sind sicherlich je nach Fragestellung z.B. Polyamide (PA), Polyvinlychlorid (PVC) oder Polymethylmethacrylat (PMMA) genauso wie die bioabbaubaren Polymere Polylactid Acid (PLA) oder Polybutyratadipat-Terephthalat (PBAT) sowie Styrol-Butadien-Kautschuk (SBR) als Elastomer zur Bewertung von Reifenabrieb.
Die erste große Herausforderung besteht nun darin, aus dem Polymermaterial ein Referenzmaterial zu machen. Es gibt verschiedene Initiativen: Eine ist die oben zitierte Konzeptstudie aus Wissenschaft und Forschung: Entwicklung neuer Referenzpartikel an der Uni Bayreuth. Eine andere kommt von der Arbeitsgruppe um Prof. Harre von der Hochschule für Technik und Wirtschaft Dresden. Beide stellen Partikel definierter Anzahl mit Größen über 125 µm her. Die Partikel können als Modellpartikel mit geringster Anzahl und einheitlicher Größe dienen, sind aber nicht realitätsnah. In der Umwelt entsteht das meiste Mikroplastik durch witterungsbedingten Zerfall aus Kunststoffprodukten, die unsachgemäß entsorgt werden. Dabei werden die entstehenden Partikel nach ihrer Größe klassifiziert: 1-5 mm (großes Mikroplastik), 1-1000 µm (Mikroplastik) und < 1 µm (Nanoplastik) (ISO/TR 21960:2020). Um ein realitätsnahes Referenzmaterial für die Mikroplastikforschung herzustellen, muss das Material daher eine unregelmäßige Form der Partikelfragmente aufweisen, eine breite Größenverteilung zwischen 1 und 1000 µm haben und als Hauptkomponente aus einem der oben genannten Polymermaterialien bestehen. Solche Partikel können mittels Kryomahlung oder anderer Zerkleinerungstechniken hergestellt werden.
Die zweite große Herausforderung liegt in den in der Umwelt detektierbaren Konzentrationen an Mikroplastik. Naturgemäß wird es im Rohabwasser einer Kläranlage wesentlich höhere Gehalte geben als im gereinigten Abwasser (mg/m3). Geringere Gehalte findet man im Lebensmittelkontakt, wie z.B. Flaschenwasser oder Trinkwasser (µg/m3) und noch geringere in Biota (ng/g). Bei der Herstellung des Referenzmaterials muss also die Dosis stimmen. Größere Mengen können mit Feinwaagen direkt aus Referenzpulvern eingewogen werden. Bei geringen Mengen (µg und ng) sind die Unsicherheiten der Waagen zu groß, so dass andere Wege zur Herstellung der Materialien nötig sind. Kleinstmengen an Mikroplastik können z.B. mit einer wasserlöslichen Matrix in Tablettenform verpresst und so quantitativ bis zur Anwendung gelagert werden. Eine weitere Möglichkeit besonders für kleine Mikro- oder Nanoplastikpartikel ist die Lagerung in Glycerol.
Die dritte Herausforderung ergibt sich aus der Komplexität der Umweltproben. Bevor die Kunststoffpartikel detektiert werden können, muss die Probe genommen, homogenisiert und die Matrix weitgehend reduziert werden, damit es nicht zu falsch positiven Ergebnissen kommt. Dabei muss während der gesamten Prozesskette der Analytik darauf geachtet werden, dass es nicht zu Kontaminationen durch z.B. die Verwendung von Kunststoffgegenständen kommt. Manche Wasserproben können einfach durch Filtration aufbereitet werden, wohingegen Böden oder Kompost z.B. eine wesentlich intensivere Probenaufbereitung durch Reduktion der Organik bzw. Anorganik benötigen. Diese darf aber nicht zur Veränderung der Kunststoffpartikel selbst oder ihrer Anzahl oder Masse führen.
In der Mikroplastikforschung kommen Methoden zum Einsatz, die die Anzahl von Partikeln in einer Probe bestimmen oder anhand thermischer, chemischer oder physikalischer Methoden auf den Gesamtmassengehalt an Mikroplastik in einer Probe zurückschließen lassen. Gibt es mittlerweile aussichtsreiche Verfahren, mit denen sich beides, also sowohl die Partikelanzahl als auch der Massengehalt von Mikroplastikpartikeln in Umweltproben valide bestimmen lassen?
Die Anforderungen an die Mikroplastik-Detektion sind sehr unterschiedlich. Gerade die Bürger unserer Gesellschaft möchten gerne wissen, wie groß das Risiko von Mikro- und Nanoplastik bezogen auf die menschliche Gesundheit ist. Wir sind den Mikrokunststoffen täglich ausgesetzt: Sei es beim Einatmen oder durch die Nahrungsaufnahme. In diesem Zusammenhang ist es sehr wichtig, die Partikelgröße, -anzahl und -gestalt zu kennen. Das ist gut mit mikroskopischen Methoden zu ermitteln. Wenn jedoch die Frage auf regulatorische Ansätze kommt, dann sind Massengehalte die interessanteren Werte. Grenzwerte in Richtlinien, Verordnungen oder Gesetzen sind traditionell in Massen angegeben. Auch Simulationsmodelle zur Vorhersage von Transportpfaden oder Verteilungen arbeiten überwiegend mit Massen. Hier eigenen sich die thermischen Verfahren auch gut als Routinemethode und sei es nur, um schnell zu einer Einschätzung zu kommen, ob relevante Mikroplastikmengen in der Probe vorhanden sind. Das gleiche gilt für chemische Verfahren, die aber auf bestimmte Polymerarten (z.B. PET) begrenzt sind. PVC kann gut mit der Ionenchromatographie nachgewiesen werden.
Naturgemäß ist es sicherlich schwierig ein Verfahren zu finden, dass sowohl die Partikelanzahl als auch quantitativ die Masse bestimmen kann, da jede Methode ihre Vorteile und Nachteile besitzt. Es wird aber bereits daran gearbeitet, die Methoden zu kombinieren. So könnte z.B. zunächst die Probe mikroskopisch auf die Partikelanzahl analysiert werden, bevor die Partikel anschließend thermisch pyrolysiert und auf die Masse detektiert werden. Die Voraussetzung ist eine Probenvorbereitung, die später für beide Methoden funktioniert.
Ich persönlich glaube nicht, dass wir in naher Zukunft eine Methode finden, die sowohl die Partikelanzahl als auch die Massengehalte richtig und akkurat quantitativ nachweisen kann. Wir haben aber einen guten Methodenpool, mit dem wir die anstehenden Fragestellungen zuverlässig beantworten können.
Die Ergebnisse der Projekte „POLYRISK“ und „PlasticTrace“ sowie des Projekts „PlasticFatE“ sollen in Empfehlungen für Normen und Gesetze zur wissenschaftlichen Bewertung der Auswirkungen und Risiken für Mensch und Umwelt einfließen. Können Sie etwas zu den bisherigen Ergebnissen der Projekte und zur Bedeutung von Referenzmaterialien für die Mikroplastikforschung sagen? Wie ist der aktuelle Stand der Normenentwicklung und Harmonisierung der Forschungsmethoden?
Das Ziel dieser Projekte mit großen Forschungsverbunden ist es einerseits wissenschaftlich zu forschen, aber auch durch Wissenstransfer eine mögliche Regulierung zu unterstützen, wenn diese nötig sein sollte. Bei Mikro- und Nanoplastik gilt das Vorsorgeprinzip, so dass es heute schon erste Regulierungsbemühungen von Seiten der EU-Kommission gibt wie etwa bei der Trinkwasser-Richtlinie Directive (EU) 2020/2184) und der Abwasserrichtlinie (Directive (EU) 2024/3019). In beiden Richtlinien wird das Monitoring von Mikroplastik explizit gefordert.
In den genannten EU-Projekten wurde besonders daran geforscht, geeignete realitätsnahe Materialien zu entwickeln, die als Referenzmaterial genutzt werden können. So bietet die BAM heute erste Mikroplastik-Referenzmaterialien an, weitere sind im Zertifizierungsprozess. Zusätzlich wurde in den Projekten verstärkt an der Methodenentwicklung zur Detektion gearbeitet. Nur wenn wir mit Hilfe der Referenzmaterialien die genannten Methoden validieren, können wir richtige und akkurate Partikelanzahlen und -massen in den unterschiedlichen Kompartimenten bestimmen, welche wiederum die Voraussetzung für realistische toxikologische Untersuchungen zum Gefährdungspotential der Miko- und Nanoplastik sind.
Die in PlasticTrace als Referenzmaterial entwickelten Tabletten wurden in PlasticsFatE für einen Internationalen Vergleichsversuch unter dem Dach von VAMAS (Versailles Project on Advanced Materials and Standards) angewendet. Über 50 Labore von allen Kontinenten haben daran teilgenommen. Es konnte gezeigt werden, dass wir auf einem guten Weg sind. Es gibt aber immer noch Unsicherheiten und Verbesserungspotential, so dass wir solche Versuche regelmäßig brauchen, um die Mikro- und Nanoplastikanalytik weltweit zu harmonisieren. Nur wenn wir im regulatorischen Kontext auf Referenzmaterial und einheitlich abgestimmte Standardarbeitsanweisungen zurückgreifen, kommen wir zu einheitlichen Ergebnissen weltweit.
Frau Dr. Altmann, herzlichen Dank für das Interview!
Weitere Information:
Die Ergebnisse der Projekte werden in verschiedene Normungsgremien transferiert. Diese beschäftigen sich mit den Detektionsmethoden, der Probenaufbereitung von Kompost und Referenzmaterial:
- ISO/TC 147/SC 2/JWG1
ISO/DIS 16094-2 Water quality — Analysis of microplastic in water; Part 2: Vibrational spectroscopy methods for waters with low content of sus-pended solids including drinking water
ISO/DIS 16094-3 Water quality — Analysis of microplastic in water; Part 3: Thermo-analytical methods for waters with low content of suspended solids including drinking water - ISO/TC 61/SC 14/WG 4
ISO/WD 24899 Plastics – A method for extraction of microplastics from compost samples
ISO/NP 25654 Plastics — Reference materials for the validation of microplastic detection Methods
Foto: © BAM / Grafik: © BKV